Jüdinnen – Tradition, Spiritualität, Emanzipation
Rund um die Rolle der Frauen im jüdischen religiösen Leben über die Jahrhunderte haben sich viele Mythen, Legenden und Halbwahrheiten entwickelt. Die Situation wird zusätzlich dadurch kompliziert, dass die jüdische Gemeinschaft selbst sehr heterogen war (und ist), unterteilt unter anderem nach Traditionen oder Dynastien1. Außerdem lebten Juden meist als Minderheit inmitten einer (überwiegend) christlichen Mehrheitsgesellschaft, wobei Muster aus der Mehrheitsgesellschaft mitunter die innergemeinschaftlichen Beziehungen beeinflussten.
Konzentriert man sich jedoch auf die Religion selbst, fällt auf, dass Frauen im Judentum oft als spirituell stärker und intuitiver als Männer angesehen werden. Einige vertreten sogar die Auffassung, dass sie von Natur aus näher am göttlichen Ideal stünden. Die Gründe für diese besondere religiöse Stellung der Frauen werden in den ältesten Geschichten der Israeliten gesucht, insbesondere in den Ereignissen rund um den Auszug aus Ägypten und die Wanderung ins Gelobte Land. Als Moses auf den Berg Sinai ging, um von Gott die Zehn Gebote zu empfangen, wurden die ungeduldigen Israeliten, die befürchteten, der Prophet habe sie verlassen, zu einem götzenhaften Schritt verleitet – der Herstellung eines goldenen Kalbes. An diesem Unternehmen nahmen die Frauen jedoch nicht teil, und den Schmuck, den sie besaßen, nahm man ihnen gewaltsam ab, um die Statuette anzufertigen.
Zur Erinnerung an diese Ereignisse ist es in vielen jüdischen Traditionen bis heute üblich, Frauen zu Feiertagen mit Schmuck zu beschenken, um symbolisch den alten Verlust auszugleichen. Zudem wird der monatliche Rosz Chodesz (Beginn des neuen Monats) traditionell als Frauentag angesehen.
Biblische Erzählungen über Frauen und ihre Verdienste für den Glauben werden gut durch die Geschichte von Esther – der Frau des persischen Königs Ahasveros illustriert. Dank ihres Schlauen Vorgehens deckte sie während eines königlichen Festes die Verschwörung Hamans auf, der die Tötung von Mordechai (Esthers Cousin und zugleich hochrangiger königlicher Beamter) sowie aller Juden im Reich plante. Empört über die Verschwörung befahl der König Hamans Hinrichtung und erlaubte dem jüdischen Volk, sich gegen seine Anhänger zu verteidigen.
Das religiöse Leben der Frauen umfasst auch die alltäglichen Pflichten, die als Mizwot bezeichnet werden. So sind es die Frauen, die die Kerzen vor Beginn des Schabbats entzünden und sich um die Erziehung und Bildung des Nachwuchses kümmern. Aus historischer Sicht ist dies bedeutsam, da die Pflicht zur Kindererziehung bedeutete, dass jüdische Frauen zumindest die Grundlagen des Lesens und Schreibens beherrschen mussten Fähigkeiten, die in früheren Jahrhunderten keineswegs selbstverständlich oder weit verbreitet waren.
Eine weitere Pflicht ist die Nutzung des Mikwe2 nach der Menstruation. Dies ergibt sich daraus, dass im jüdischen Religionsgesetz der Kontakt mit Blut als ritueller Unreinheit gilt (ähnlich etwa dem Besuch eines Friedhofs, nach dem die Hände gewaschen werden müssen). Es ist wichtig zu bedenken, dass in früheren Zeiten die biologischen Ursachen der Menstruation unbekannt waren, weshalb ihr verschiedene, teilweise sogar dämonische Ursprünge zugeschrieben wurden. Mit der Zeit, durch Fortschritte in Wissen und Verständnis biologischer Prozesse, änderte sich diese Sichtweise, und auch die Art und Bedingungen der rituellen Reinigung wurden angepasst.
Obwohl jüdische Frauen innerhalb ihrer Gemeinschaften über die Jahrhunderte oft etwas größere Freiheiten genossen als Gleichaltrige anderer Religionen (etwa in Bezug auf Bildung oder Scheidungsfragen) lebten sie dennoch in einem breiteren sozialen Kontext, der ihre Rolle beeinflusste. Beispielsweise beschränkte sich bis Ende des 19. Jahrhunderts das öffentliche Engagement jüdischer Frauen in Gleiwitz meist auf Wohltätigkeit und karitative Initiativen. Erst während des Ersten Weltkriegs erhielten sie die Möglichkeit, breiter am öffentlichen und wirtschaftlichen Leben teilzunehmen. Dies hing unter anderem mit der Entwicklung emanzipatorischer Bewegungen zusammen, die schließlich zur Einführung des Frauenwahlrechts in den meisten Ländern kurz nach Kriegsende führten. Gleichzeitig förderte die Zeit des großen Krieges die Entstehung von Organisationen für die Ehefrauen und Mütter gefallener, verwundeter oder vermisster Soldaten.
1 Dynastie bezieht sich in der Regel auf chassidische oder rabbinische Familien und nicht auf königliche oder adlige Familien im allgemeinen Sprachgebrauch.
2 Mikwe – ein rituelles Bad im Judentum, das zur spirituellen und rituellen Reinigung genutzt wird.