Virtuelle Ausstellung: „Grenzgänger. Erzählte Zeiten, Menschen, Orte“

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Einführung

In den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts wurden die Oberschlesier von der Geschichte nicht verwöhnt. Als sich die meisten Europäer im Herbst 1918, nach vier Kriegsjahren, endlich über den Frieden freuen konnten, erschütterten drei bürgerkriegsähnliche Aufstände die Oderregion. Das Ergebnis des Plebiszits, in dem sich die Oberschlesier zur künftigen staatlichen Zugehörigkeit ihres Heimatlandes aussprechen sollten, brachte zwar einen deutschen Sieg, veranschaulichte aber zugleich, dass sich mehr als 40 Prozent der Einwohner mit dem Staat, in dem sie geboren und aufgewachsen waren, nicht identifizierten und im wiedererstandenen Polen leben wollten.

Als im Juli 1922 Grenzschlagbäume zwischen den oberschlesischen Städten errichtet wurden, konnte sich wohl niemand vorstellen, was die Teilung des mulitkulturellen Oberschlesien in Wirklichkeit bedeuten würde. Auf beiden Seiten der neuen Grenzlinie lebten schließlich Menschen, die von den gleichen kulturellen Bedingungen geprägt waren, unabhängig davon, ob es sich bei Ihnen um Deutsche, Polen oder solche Personen handelte, die ihre ethnische Identität nur auf regionaler Ebene definierten. In der Region lebten sowohl Katholiken, als auch Protestanten und Anhänger des jüdischen Glaubens. Für einen Großteil der Bevölkerung war das Leben in mindestens zwei Sprachen und Kulturen das Natürlichste auf der Welt.

Die Grenzziehung erzwang klare Entscheidungen: Bleiben? Nach drüben gehen? Abwarten? Das Zuhause verlassen, um seinen Traum vom polnischen Oberschlesien zu verwirklichen oder – im umgekehrten Falle – um weiterhin als deutscher Bürger in Deutschland zu leben? Nach den Aufständen und dem Plebiszit war nichts mehr so wie früher. Die Grenzziehung verstärkte diesen Zustand noch zusätzlich.

Fast 200.000 Oberschlesier zogen in den ersten Jahren nach der Teilung nach drüben; die einen nach Deutschland, die anderen nach Polen. Wieviele weitere einen solchen Schritt in Erwägung gezogen, sich im Endeffekt aus verschiedenen Gründen aber nicht dafür entschieden haben, werden wir wohl nie erfahren.

Auch diejenigen, die zu Hause blieben, mussten sich im Sommer 1922 Dutzende von Fragen stellen: Wie komme ich zur Arbeit, wenn das Bergwerk im Ausland liegt? Wie komme ich in die nächstgelegene Stadt, wenn die Eisenbahnlinie jetzt teilweise über das Gebiet eines anderen Staates führt? Wie oft werden wir unsere Eltern / Kinder sehen, wenn sie jetzt Bürger eines anderen Staates, Ausländer, sind?

Trotz der Belastungen, die auf die dramatischen Ereignisse der frühen 1920er Jahre zurückzuführen waren, war die deutsch-polnische Grenze in Oberschlesien bis Mitte 1939 keine brennende Grenze. Den Bestimmungen der Oberschlesien-Konvention war es zu verdanken, dass quer durch die Region kein „eiserner Vorhang“ gezogen wurde und die Einwohner – trotz gewisser Schwierigkeiten – sich an das Leben im Schatten der Grenzschlagbäume gewöhnten. Die Grenze stellte zwar einen Hindernis für Waren dar, nicht aber für die Kontakte zwischen den Einwohnern der deutschen Provinz Oberschlesien und der polnischen Woiwodschaft Schlesien.

Auch wenn die Teilung der Region für viele Einwohner ein schmerzliches Ereignis war, brachte sie den Oberschlesiern eine Chance, die sie außerhalb dieser kurzen Periode nie hatten. Sie konnten nämlich – je nach Gesinnung – in Deutschland oder in Polen leben, ohne die eigene Region verlassen zu müssen. Eine solche Möglichkeit konnten weder frühere noch spätere Generationen genießen.

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