Wie kam es dazu?

Infolge der Niederlage Deutschlands und seiner Verbündeten im ersten Weltkrieg entstand in Europa, vor allem im mittleren Teil des Kontinents, eine politische Neuordnung. Gemäß dem Vertrag von Versailles (1919), den das besiegte Deutschland und die siegreichen Entente-Staaten (u.a. Frankreich, Großbritannien und Italien) unterzeichneten und mit dem der Krieg formal beendet wurde, wurde die Weimarer Republik zu territorialen Konzessionen im Westen, Osten und Norden gezwungen. Polen gewann den größten Teil der von Preußen im Rahmen der ersten und der zweiten polnischen Teilung annektierten Gebiete wieder (d.h. Posen und Pommerellen, allerdings ohne die Stadt Danzig). Auch wurden polnische Ansprüche gegenüber Oberschlesien anfangs von den Siegermächten unterstützt. Infolge der Protestwelle, die ganz Deutschland erfasste und des Zweifels seitens der Briten, die keine zu weit gehende Abschwächung des Deutschen Reiches wünschten, ordnete der Oberste Rat der Alliierten Mächte eine Volksabstimmung an, die über die künftige staatliche Zugehörigkeit der Region entscheiden sollte.

Oberschlesien – das seit dem Mittelalter außerhalb des polnischen Staatsverbandes lag – gehörte abwechselnd zum Königreich Böhmen, der Habsburger Monarchie und zum Königreich Preußen, um schließlich 1871 als Gebiet Preußens Teil des Deutschen Kaiserreichs zu werden. Die Landbevölkerung in den Gebieten östlich der Linie Kreuzburg – Oppeln – Neustadt – Ratibor sprach im Alltag mehrheitlich einen polnisch-oberschlesischen Dialekt, was allerdings deren nationales Bewusstsein nicht automatisch beeinflusste. Im Westen der Region, in den Landkreisen Neiße, Falkenberg und Grottkau sowie in allen größeren Städten dominierte die deutsche Sprache. Eine klare kulturelle und sprachliche Grenze ließ sich hier jedoch nicht ziehen; ein Großteil der Bevölkerung war in beiden Sprachen und in beiden Kulturen beheimatet. Ähnlich wie in anderen mitteleuropäischen Grenzländern war auch in Oberschlesien nicht die Sprache, sondern das subjektive Gefühl für die nationale Zugehörigkeit entscheidend. Eine bedeutende Anzahl von Oberschlesiern besaß ein stark ausgeprägtes Regionalbewusstsein und identifizierte sich weder mit der deutschen noch mit der polnischen Nation.

Noch vor dem Plebiszit – in den Jahren 1919 und 1920 – erschütterten zwei gegen die Deutschen gerichtete Aufstände die Region, die einem lokalen Bürgerkrieg gleichkamen. Der dritte Aufstand brach Anfang Mai 1921 und damit schon nach der Abstimmung aus und hatte als Adressaten nicht das Deutsche Reich, sondern ausdrücklich den Obersten Rat der Alliierten. Mit aktiver und passiver Unterstützung Frankreichs sollte er eine für Polen günstigere Grenzziehung bewirken. Allerdings hatte der Aufstand, der eine Mischung aus Erhebung, organisiertem Milizkrieg und Invasion darstellte, einen hohen Preis: Mehrere tausend tote bzw. verletzte Zivilisten und Kämpfer (auf deutscher Seite war der sogenannte „Selbstschutz“ aktiv), verwüstete Landstriche und eine allgemeine Demoralisierung der Bevölkerung.S Als Anfang Juli 1921 nach achtwöchigem Kampf die Waffen endlich schwiegen, hatte das Vertrauen in das Völkerrecht sowie die Friedensordnung von Versailles bereits schweren Schaden genommen.

Schlichtungsverbände in Oberschlesien

Wegen der fortschreitenden Eskalation des deutsch-polnischen Konflikts in Oberschlesien ging die Verwaltung in der Region von den Deutschen auf die Interalliierte Regierungs- und Abstimmungskommission (IK), bestehend aus den Vertretern Frankreichs, Großbritanniens und Italiens, über. Die Reichswehr musste aus den strittigen Gebieten abziehen. Anstelle der deutschen Streitkräfte kamen 1920 Angehörige der alliierten Streitkräfte in die Region, die nun für Ruhe und Ordnung in Oberschlesien sorgen sollten. Der Anblick britischer, italienischer und französischer Soldaten wurde für anderthalb Jahre in den Gebieten zwischen Oppeln und Schoppinitz und zwischen Kreuzburg und Ratibor zur alltäglichen Erscheinung. Offiziell unparteiisch, waren die Soldaten ein Instrument der eigenen Regierungen, die den deutsch-polnischen Konflikt rund um Oberschlesien als Element des europäischen Kampfes um politische und wirtschaftliche Einflüsse betrachteten.

Generell unterstützten die Franzosen die polnische, die Briten die deutsche Seite. Die Italiener verhielten sich relativ neutral. Dementsprechend gestalteten sich auch die Sympathien der einheimischen Bevölkerung: die deutsch-gesinnten Oberschlesier betrachteten die französischen Streitkräfte als Okkupanten, für die polnisch-gesinnte Bevölkerung galten sie dagegen als Verbündete.

Die interalliierten Schlichtungskräfte blieben in Oberschlesien bis Juni / Juli 1922 stationiert, d.h. bis zur Übernahme der ihnen jeweils zugesprochenen Teile der Region durch deutsches und polnisches Militär sowie die jeweiligen Zivilverwaltungen.

Das Plebiszit

Dem oberschlesischen Plebiszit ging eine sehr intensive Propagandaaktion voraus. Beide Seiten ließen Unmengen von Broschüren, Büchern und Flugblättern drucken, mit denen der Gegner diskreditiert und die Wähler davon überzeugt werden sollten, dass Oberschlesien in den Grenzen Deutschlands bzw. Polens eine strahlende Zukunft bevorstehe. Es kam zu zahlreichen Gewalttaten, für die sowohl die deutsche als auch die polnische Seite verantwortlich waren.

Das Gebiet, auf dem das Plebiszit durchgeführt wurde, entsprach nicht gänzlich dem des Regierungsbezirkes Oppeln. Außerhalb des Abstimmungsgebietes blieben die Kreise Falkenberg, Grottkau, Neiße und der westliche Teil des Kreises Neustadt. Dafür wurde das Plebiszit auch für den östlichen Streifen des niederschlesischen Kreises Namslau angeordnet. Auf Antrag der polnischen Seite erhielten auch die in Oberschlesien geborenen, aber außerhalb der Region lebenden Personen das Recht, sich am Plebiszit zu beteiligen.

Am 20. März 1921 gaben – bei einer sehr hohen, 98-prozentigen Beteiligung – 707.554 Oberschlesier, d.h. 59,7% der Wahlberechtigten, ihre Stimme für Deutschland ab. Dagegen sahen 40,3% der Beteiligten (d.h. 478.820 Personen) ihre Zukunft im Rahmen des polnischen Staates.

Die spätere Grenzlinie deckte sich nicht ganz mit den Abstimmungspräferenzen der Bevölkerung. Beispielsweise sprachen sich die Einwohner einiger Industriestädte im Osten der Region eindeutig für den Verbleib bei Deutschland aus. Kattowitz stimmte mit etwa 85%, Königshütte, das heutige Chorzów, mit 75% deutsch. In den meisten Landgemeinden östlich der Oder gewann Polen das Plebiszit.

Im Allgemeinen erzielte Polen das beste Ergebnis in den Kreisen Pless (74%) und Rybnik (65%). Einen niederschmetternden deutschen Sieg brachte die Abstimmung in den Kreisen Leobschütz (99,6%) und Kreuzburg mit dem Naumslauer Teil (96%). In Oppeln – der oberschlesischen Hauptstadt – stimmten 95% der Beteiligten für den Verbleib der Region bei Deutschland. Praktisch unentschieden blieb das Ergebnis in den durch Landwirtschaft und Industrie geprägten Kreisen Beuthen und Zabrze/Hindenburg, wo zwar nominal Deutschland gewann, allerdings mit einer Mehrheit von nicht mehr als zwei Prozent.

Schätzungen zufolge stimmten ca. 25% der polnischsprachigen Oberschlesier für den Verbleib ihrer Heimat bei Deutschland.

Die deutsche Seite hat die 60-prozentige Unterstützung als eigenen Sieg interpretiert und ging davon aus, dass Oberschlesien ungeteilt beim Deutschen Reich verbleiben würde. Der Versailler Vertrag sah jedoch in einem solchen Falle eine Teilung des strittigen Territoriums vor.

Die endgültige Teilung

Da das Plebiszit keine eindeutige Antwort auf die Frage, in welchem der beiden Staaten die Oberschlesier leben möchten, erbracht hatte, wurde das strittige Gebiet gemäß den Bestimmungen des Versailler Vertrags geteilt.

Eine Grenzziehung, die direkt den Abstimmungsergebnissen entsprochen hätte, war nicht möglich, da sonst eine Vielzahl von Enklaven entstanden wäre und eine komplette Lahmlegung der Wirtschaft und des Verkehrs verursacht worden wäre.

Die Vertreter der Interalliierten Kommission haben ihre eigenen Vorschläge zur Lösung der oberschlesischen Grenzfrage vorgelegt. Der französische Vorschlag entsprach im Großen und Ganzen den polnischen Erwartungen und sah die Abtretung der Gebiete östlich der Oder mit dem Industiriebezirk, Kandrzin und Groß Strehlitz, allerdings ohne Oppeln, an Polen vor. Die britisch-italienische Variante, die für die deutsche Seite viel günstiger war, sprach Polen lediglich die eindeutig polnischgesinnten Kreise Pless und Rybnik sowie einen Teil des Kreises Kattowitz zu. Dieser Vorschlag minimierte das Potential künftiger „nationaler Minderheiten“ hüben wie drüben und ließ das Industriegebiet ungeteilt bei Deutschland, wohingegen Polen den weit überwiegenden Anteil der noch unerschlossenen Bodenschätze erhalten sollte. Damit wäre die Basis für ein deutsch-polnisches Kondominium geschaffen und ein möglicher künftiger europäischer Konfliktherd weitgehend entschärft worden. Doch der britisch-italienische Plan hatte gegen den Widerstand Frankreichs und Polens keine Chance auf Realisierung. Vor diesem Hintergrund kam es folgerichtig zwischen Frankreich und Großbritannien zu einem heftigen Konflikt.

Da es innerhalb der Interalliierten Kommission zu keinem Kompromiss kam, sollte sich der Rat des Völkerbunds der Lösung des Oberschlesien-Problems annehmen. Der vom Völkerbund berufene Viererausschuss, dem Wellington Koo (China), Paul Hymans (Belgien), Quinones de Leon (Spanien) und Da Cunha (Brasilien) angehörten, arbeitete auf der Basis der Abstimmungsergebnisse und zahlreichen weiteren Hilfsmaterialien einen Teilungsvorschlag aus, der im Herbst 1921 vom Völkerbund endgültig angenommen und bestätigt wurde.

Gemäß dem Beschluss des Völkerbundes musste Deutschland den östlichen Teil des Kreises Lublinitz, den größeren Teil der Kreise Tarnowitz und Beuthen (allerdings ohne die Stadt Beuthen), den gesamten Kreis Kattowitz, den südöstlichen Teil des Kreises Zabrze/Hindenburg (jedoch ohne die Stadt Zabrze/Hindenburg), den ganzen Kreis Pless, fast den ganzen Kreis Rybnik sowie den nordöstlichen Rand des Kreises Ratibor an Polen abtreten. Damit fiel fast 30% des Abstimmungsgebietes mit 46% der Bevölkerung an Polen. Der größere Teil des Industriebezirks wurde polnisch.

Die Bekanntgabe des endgültigen Grenzverlaufs hat in Deutschland Verbitterung hervorgerufen. Auf öffentlichen Gebäuden wurden die Fahnen auf Halbmast gesetzt, die Reichsregierung trat zurück. Die polnische Seite zeigte keinen großen Enthusiasmus, allerdings wurde die interalliierte Entscheidung als nicht das schlechteste empfunden.

Noch vor der Übernahme der ihnen zugesprochenen Teile des Abstimmungsgebietes haben Deutschland und Polen auf ausdrückliche Forderung des Völkerbundes die so genante Oberschlesien-Konvention unterzeichnet, die mit ihren mehr als 600 Artikeln die für das Funktionieren der Region in der neuen Wirklichkeit wesentlichen Fragen für den Zeitraum von 15 Jahren regelte.

Völkerwanderung

Denen, die mit der neuen Grenzziehung nicht zufrieden waren, gewährleistete die Genfer Oberschlesien-Konvention das Recht, jeweils nach der anderen Seite der Grenze überzusiedeln. Wer sich das Leben in der deutschen / polnischen Wirklichkeit nicht vorstellen konnte oder wollte, hatte das Recht, durch einen Optionsakt die Staatsangehörigkeit des Staates anzunehmen, mit dem er sich identifizierte, und in das Gebiet dieses Staates zu ziehen (nicht selten nur wenige Kilometer vom bisherigen Wohnort).

Zwischen 1922 und 1924 haben ca. 200.000 Oberschlesier – die sich zum Deutschtum bzw. Polentum bekannten – von diesem Recht Gebrauch gemacht.

Nicht nur Abstimmungsaktivisten verließen ihre Häuser aus Angst vor möglichen Schikanen. Auch viele, die bisher politisch nicht engagiert gewesen waren, entschlossen sich zur Auswanderung. Die einen wollten weiterhin als deutsche Staatsbürger in Deutschland leben, die anderen ihre Träume vom polnischen Oberschlesien verwirklichen.

In der ersten Hälfte 1922 wimmelte es in den regionalen Zeitungen von Wohnungstauschanzeigen. Angeboten wurden Wohnungen im polnischen und im deutschen Teil Oberschlesiens. Auch informierten zahlreiche Firmen über den Wechsel ihrer bisherigen Unternehmenssitze.

Die Folge dieser Migrationen war die Übervölkerung der Städte. Ein Großteil der Optanten (die in Deutsch-Oberschlesien auch als Flüchtlinge, in Polnisch-Oberschlesien dagegen als Repatrianten bezeichnet wurden) hausierte bis in die 30er Jahre in primitiven Baracken am Rande der Industriestädte. Erst im Laufe der Zeit wichen die Baracken den nun immer ästhetisch ansprechenderen Neusiedlungen.

Die Übernahme von Teilen Oberschlesiens durch Deutschland und Polen

Die Übernahme durch Deutschland und Polen der bis dahin unter alliierter Kontrolle stehenden oberschlesischen Gebiete erfolgte in fünf Etappen zwischen Mitte Juni und Mitte Juli 1922.

In vielen Städten Oberschlesiens wurden mit schwarzen bzw. weißen Adlern geschmückte Triumphbögen aufgestellt. Sowohl die Reichswehr als auch die Polnische Armee wurden im Westen bzw. im Osten Oberschlesiens enthusiastisch von der Bevölkerung begrüßt. Genauer gesagt von dem Teil der Bevölkerung, der mit der neuen Grenzziehung zufrieden war, denn die Unzufriedenen blieben wohl zu Hause.

Mit dem Einmarsch der Militärverbände war aber die Grenze noch nicht im physischen Sinne präsent. Mitte Juli 1922 war sie lediglich eine provisorische und unpräzise Demarkationslinie. Bis Frühjahr 1923 arbeitete noch eine Grenzkommission an der Präzisierung des Grenzverlaufs und entschied gleichzeitig über die von beiden Parteien formulierten Vorbehalte.

Mit der Zeit wurde die Grenze immer sichtbarer. Zwischen Zborowski im Kreis Lublinitz und Zabelkau im Kreis Ratibor wurden hunderte von Grenzsteinen gesetzt, Dutzende Zollhäuser und Schlagbäume gebaut und aufgestellt.

Grenzübertritt

Weder die deutsche noch die polnische Seite wollten das seit Jahrhunderten zusammengewachsene Gebiet durch irgendeinen „eisernen Vorhang“ abriegeln. Zwar wurden ab Jahresmitte 1922 selbst nahe Verwandte oft zu Bürgern unterschiedlicher Staaten und die Arbeitsplätze Tausender Oberschlesier befanden sich aus der Perspektive ihres jeweiligen Wohnortes nunmehr im Ausland. Doch ermöglichten es die auf Grundlage der Genfer Konvention über Oberschlesien vom Mai 1922 eigens eingeführten Verkehrskarten den Einwohnern beider Teile der Region, grenzüberschreitende Reisen innerhalb des gesamten ehemaligen Abstimmungsgebiets ohne Reisepass und Visum zu unternehmen. Damit war die deutsch-polnische Grenze in Oberschlesien zwar ein Hindernis für Handel und Warentransport, schloss aber die Kontakte zwischen den Einwohnern der Provinz Oberschlesien und der Woiwodschaft Schlesien in keiner Weise aus.

Die Verkehrskarten eröffneten freilich auch gewisse Missbrauchsmöglichkeiten. So konnten polnische Karteninhaber nach dem Passieren der Grenze mit etwas Glück ohne größere Probleme bis nach Breslau, Berlin oder Frankfurt reisen. Dasselbe galt umgekehrt für deutsche Staatsangehörige, die mit ihren Verkehrskarten theoretisch bis Krakau oder Lemberg fahren konnten. Aus diesem Grunde wurden in deutschen und polnischen Zügen auch auf Inlandsstrecken fremdsprachige Fahrgäste gelegentlich zusätzlich kontrolliert. Diese Bestimmungen des kleinen Grenzverkehrs wurden bis 1939 aufrechterhalten. Lediglich die Verkehrskarten wurden nach Ablauf der Oberschlesien-Konvention im Jahr 1937 durch Grenzausweise ersetzt.

An der Grenze zwischen Oberschlesien und Górny Śląsk

Seit Jahresmitte 1922 bestimmten zwischen oberschlesischen Städten und Dörfern zunehmend Zollhäuser und Schlagbäume das Bild der Landschaft. Erstmals wurde eine Grenze, die zuvor noch nie Wirklichkeit gewesen war, zum Faktum.

Von nun an war das Passieren der Grenze nur an bestimmten Stellen erlaubt. Besuche bei Verwandten und Bekannten wurden, jedenfalls offiziell, zu Auslandsreisen. Letztere hatten freilich die Eigenart, dass sich viele Entfernungen zu Fuß zurücklegen ließen, denn die Grenze zerschnitt ein seit Jahrhunderten zusammengewachsenes Gebiet, so dass manchmal Gebäude, die nur einige Dutzend Meter voneinander entfernt waren, nun in zwei verschiedenen Staaten lagen. Die Einwohner des deutschen und des polnischen Teiles Oberschlesiens konnten dank der sogenannten Verkehrskarten innerhalb des ganzen ehemaligen Abstimmungsgebiets ungehindert reisen.

Besonders in der ersten Phase bildete die Grenze weder eine sprachliche noch eine kulturelle Barriere. In beiden Teilen der Region wurden sowohl der polnisch-oberschlesische Dialekt als auch Deutsch gesprochen.

Privilegierter Eisenbahnverkehr und Transitstraßenbahnlinien

Die neue Grenze zerschnitt im Abstimmungsgebiet 15 Eisenbahnlinien, sieben Straßenbahnlinien und unzählige Strecken des besonders im Industriegebiet ausgebauten Schmalspurbahnnetzes. Angesichts des kurvenreichen Verlaufes der Grenzlinie hätten polnische und deutsche Stellen theoretisch viele Züge selbst auf kurzen Strecken mehrmals kontrollieren müssen, denn oft führte der kürzeste Weg zwischen zwei deutschen bzw. zwei polnischen Städten nun über das Gebiet des Nachbarstaates.

Um die grenzbedingten Probleme im Verkehrsbereich zu minimieren, wurde gemäß Art. 468 der Oberschlesien-Konvention der „privilegierte Durchgangsverkehr“ eingeführt. So unterlagen die Züge, deren Anfangs- und Endstation auf dem Gebiet desselben Staates lagen, keiner Zoll- und Grenzkontrolle, auch wenn die Strecke über das Territorium des Nachbarlandes führte. Auch brauchten die Fahrgäste weder Reisepässe, noch Verkehrskarten, noch sonstige Ausweise vorzuzeigen. Der Transit durch das ausländische Gebiet erfolgte aber in abgeschlossenen Waggons ohne Ein- und Ausstiegsmöglichkeit.

Bei Inkrafttreten der Konvention galten Sonderbestimmungen u.a. für folgende Transitstrecken:

  • Gleiwitz [D] – Gleiwitz-Grube [D] (Güterverkehr, Transit über unbebautes Gebiet der polnischen Gemeinde Preiswitz),
  • Gleiwitz [D] – Makoschau [PL] – Delbrück-Schächte [D] (Güterverkehr),
  • Karf [D] – Beuthen-Stadtwald [D] – Tarnowitz [PL] – Brynnek [D] (Personen- und Güterverkehr),
  • Karf [D] – Beuthen-Stadtwald [D] – Tarnowitz [PL] – Lublinitz [PL] – Cziasnau [D] (Personen- und Güterverkehr),
  • Morgenroth [PL] – Karf [D] – Neu Radzionkau [PL] (Personen- und Güterverkehr),
  • (Alt) Chorzow [PL] – Beuthen [D] – Scharley [PL] (Personen- und Güterverkehr),
  • (Alt) Chorzow [PL] – Beuthen [D] – Karf [D] – Neu Radzionkau [PL] (Personen- und Güterverkehr).

In der Zwischenkriegszeit gab es darüber hinaus zwei Transitstraßenbahnlinien, eine davon im deutschen, die andere im polnischen Netz. Polnische Straßenbahnen fuhren bis zum Ablauf der Konvention Ende 1936 von Kattowitz [PL] nach Deutsch Piekar [PL] über Beuthen-Rossberg [D]. Deutsche Straßenbahnen verkehrten zwischen Zabrze/Hindenburg [D] und Beuthen [D] über Rudahammer [PL], bis 1930 eine Umgehungsstrecke gebaut wurde. Auf den übrigen Trassen endeten die Straßenbahnlinien einfach an den Grenzübergängen. Die Reisenden passierten die Grenze dann zu Fuß, um nach der Grenz- und Zollkontrolle eine Straßenbahn im internen Netz des Nachbarstaates zu nehmen.

Fußball im geteilten Oberschlesien

Fußball war und ist der „Nationalsport” der Oberschlesier. Die Spiele der deutsch-oberschlesischen Mannschaft gegen die polnisch-oberschlesische Elf gehörten zu den wichtigsten Sportereignissen in der geteilten Region. Für beide Seiten waren diese Spiele eine Prestige-Sache, denn Sport war eines der Elemente der auf vielen Ebenen präsenten deutsch-polnischen Rivalität in Oberschlesien.

Polnisch-Oberschlesien – Deutsch-Oberschlesien (ausgetragen in Polen)
1924Kattowitz3:3
1927Kattowitz1:2
1928Kattowitz0:2
1929Kattowitz1:0
1931Kattowitz2:1
1934Kattowitz0:2
1935Kattowitz9:1
1936Kattowitz3:2
1938Kattowitz2:1
Deutsch-Oberschlesien – Polnisch-Oberschlesien (ausgetragen in Deutschland)
1925Beuthen3:1
1927Beuthen2:2
1928Beuthen4:2
1929Zabrze / Hindenburg3:2
1930Zabrze / Hindenburg0:2
1932Beuthen1:1
1934Beuthen0:0
1935Zabrze / Hindenburg3:3
1936Beuthen1:3
1937Beuthen2:4
1939Beuthen5:3

In der zweiten Hälfte der 30er Jahre hat Ruch Wielkie Hajduki (Bismarckhütte) die polnische Fußballliga dominiert. Die „Blauen“ wurden fünfmal (1933, 1934, 1935, 1936, 1938) polnischer Meister. Darüber hinaus gehörten der 1. FC Katowice (Kattowitz) und AKS Chorzów (Königshütte) zu den polnischen Spitzenmannschaften, wobei der erstere Verein seine größten Triumphe in den 20er und der letztere in den 30er Jahren feierte.

Keiner der westoberschlesischen Vereine hat es jemals zum deutschen Meister gebracht. Die größten Erfolge erzielte Vorwärts Rasensport Gleiwitz, das 1936 erst in der Endrunde am späteren Deutschen Meister Fortuna Düsseldorf (0:9) scheiterte und 1936 in der nationalen Endrunde den vierten Platz belegte. Neben der Gleiwitzer Mannschaft errangen in den 20er und 30er Jahren auch Preußen Zaborze (heute ein Stadtteil von Zabrze/Hindenburg) und SSV 09 Beuthen den Meistertitel des Südostdeutschen Fußballverbandes, der territorial Ober-, Niederschlesien und die Lausitz umfasste.

Der mit Abstand größte Superstar von Polnisch-Oberschlesien war Ern(e)st Wilimowski (1916 – 1997). In der polnischen Nationalmannschaft erzielte er 21 Tore in 22 Spielen. Nach dem deutschen Einmarsch in Polen im September 1939 spielte er für die deutsche Nationalelf (13 Tore in acht Spielen). Wilimowski war Zögling des 1. FC Katowice, doch erlebte er die größten Erfolge mit Ruch. In den 30er Jahren gehörte er zweifellos zu den besten Angriffsspielern der Welt. Nach 1945 blieb er in Westdeutschland. In der Volksrepublik Polen galt Wilimowski als Verräter und wurde somit in die Vergessenheit verbannt. Er starb in Karlsruhe im Jahre 1997.

Solch einen Fußballvirtuosen wie Wilimowski gab es in Deutsch-Oberschlesien nicht. Erwähnenswert wäre jedoch auf jeden Fall die Person Richard Maliks (1909 – 1945). Über seine ganze Fußballkarriere hinweg blieb er dem SSV 09 Beuthen treu. Obwohl Malik jahrelang zu den besten Mittelfeldspielern Deutschlands gehörte, spielte er nur zweimal in der Nationalelf. Er galt als „Dirigent“ der Mannschaft und „Vater“ des für den Beuthener Verein charakteristischen so genannten Wiener Spielstils. Den SSV zeichnete im Gegensatz zu den anderen oberschlesischen Mannschaften eine gehobene Spieltechnik und viel Finesse aus. Während des Zweiten Weltkrieges wurde Malik eingezogen. 1945 fiel er als Wehrmachtssoldat an der Ostfront.

Schmugglernest

An jeder Grenze wird unweigerlich geschmuggelt. Im geteilten Oberschlesien waren die Bedingungen hierfür besonders günstig, da die Grenze hier ein dicht bebautes und bevölkertes Land zerschnitt. Der Umstand, dass vor allem im Industriegebiet praktisch jeder Bewohner Verwandte und Bekannte auf der anderen Seite hatte, erleichterte den Schmuggel zusätzlich. Jenseits der Grenze verlässliche Abnehmer für geschmuggelte Waren zu finden, war kaum ein Problem. Die Wirtschaftskrise seit Ende der 1920er Jahre und der damit verbundene Anstieg der Arbeitslosigkeit führten dazu, dass der „Grenzgang“ für zahlreiche Familien zur einzigen Einkommensquelle wurde. Humorvolle Schmugglergeschichten werden bis heute in den ehemaligen Grenzorten erzählt. Seltener wird daran erinnert, dass Grenzschutzbeamte manchmal von der Waffe Gebrauch machten und viele Menschen ihre Schmuggleraktivitäten mit dem Leben bezahlten.

In Deutschland waren polnische Fleischwaren, Butter und sonstige Lebensmittel gefragt. Nach Polen wurden hingegen eher technische Erzeugnisse wie Fahrräder, Wecker, Spielzeug, Feuerzeuge und Feuersteine, aber auch Sacharin und Südfrüchte „herübergetragen“.

Der September 1939

Am 1. September 1939 begann Hitlers „Drittes Reich“ seinen Angriff auf Polen und entfesselte damit den Zweiten Weltkrieg.

Während der Kampfhandlungen wurden die meisten der Befestigungen, die in den letzten Vorkriegsjahren in oberschlesischen Grenzorten errichtet worden waren, nicht genutzt. Die von der Einkesselung bedrohten polnischen Verbände zogen sich bereits in den ersten Kriegstagen zurück, so dass sich bis zum 4. September alle Kreise Polnisch-Oberschlesiens in deutscher Hand befanden. Damit hörte die deutsch-polnische Grenze in Oberschlesien auf zu existieren; die gesamte Region befand sich nun wieder innerhalb deutscher Grenzen. Nachdem Polen im September 1939 unter dem doppelten Ansturm des Deutschen Reiches und der Sowjetunion Stalins zusammengebrochen war, war anzunehmen, dass das polnische Kapitel in der Geschichte Oberschlesiens nun für lange Zeit beendet sein würde.

Sechs Jahre später jedoch kam nach der bedingungslosen Kapitulation des Dritten Reiches nicht nur Oberschlesien, sondern auch Niederschlesien bis zur Lausitzer Neiße unter polnische Verwaltung. Damit war die Grenze, die Oberschlesien 17 Jahre lang geteilt hatte, endgültig Geschichte.

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