Grenzkuriositäten

Die Grenzziehung in Oberschlesien war, vor allem in seinem hoch industrialisierten und dicht besiedelten Teil, ein sehr kompliziertes Unterfangen. Da viele Städte, die ein einheitliches Ballungsgebiet bildeten, nun durch eine Staatsgrenze voneinander getrennt wurden, entstanden zahlreiche kuriose Lösungen, die nicht selten das alltägliche Leben der Bevölkerung beeinträchtigten.

Gurek

Einen besonders kuriosen Verlauf hatte die Grenze in der Nähe von Gurek (D) und Summin (PL). Der Bahnhof im polnischen Summin lag direkt an der Grenze. Das Abtrennen der hinter dem Bahnhof gelegenen Gleise hätte das Rangieren der Züge und damit auch das normale Funktionieren dieses Eisenbahnknotens unmöglich gemacht. So wurden die mitten durch das deutsche Gurek führenden Gleise auf einer Strecke von ca. einem Kilometer Polen zugeteilt, und bildeten so einen Keil, der in das deutsche Gebiet hineinreichte.

Delbrück-Schächte (Delbrück-Grube), Heute Kopalnia Makoszowy

Die vor den südlichen Toren der Stadt Zabrze/Hindenburg gelegene Grube Delbrück wurde zum Gegenstand eines verbissenen diplomatischen Streites zwischen Deutschland und Polen. Während der Grenzverlauf im ehemaligen Volksabstimmungsgebiet wenigstens näherungsweise schon im Herbst 1921 festgelegt wurde, fiel die Entscheidung über die staatliche Zugehörigkeit der Delbrück-Grube erst Mitte 1923. Am Ende blieb das Werk aufgrund des Urteils der Grenzsonderkommission auf deutscher Seite.

Auf Höhe der Grube wich die neue Grenze vom Fluss Scharnafka ab, um der Bahnstrecke Gleiwitz (D) – Makoschau (PL) und dann der südlichen und teilweise östlichen Umzäunung der Grube zu folgen. Das Haupteingangstor wurde bis 1939 als Grenzübergang genutzt. Sowohl die Ortschaft Makoschau als auch der 100 Meter von der Grube entfernte Bahnhof Makoschau lagen schon auf polnischem Gebiet. Die neue Staatsgrenze durchtrennte das Grubenfeld. Auf polnischer Seite befanden sich die bis dahin mit dem Bergwerk Delbrück zusammenhängenden Schächte „Rheinbaben“ und „Dorotka“, die später in der polnischen Grube Bielszowice aufgingen.

Rudahammer

Die zwischen Zabrze/Hindenburg und Beuthen gelegene Ortschaft Rudahammer (heute Stadtteil von Ruda) wurde 1922 polnisch. Die Attraktivität dieser Bergbausiedlung erhöhte das dort befindliche moderne Knappschaftslazarett. Nach der neuen Grenzziehung im Jahre 1922 führten die Verbindungschaussee und die Straßenbahnlinie vom deutschen Zabrze/Hindenburg nach dem deutschen Beuthen auf einer Strecke von 1,5 km über das polnisch gewordene Rudahammer.

Bis Ende der 20er Jahre mussten die deutschen Straßenbahnen auf dieser Strecke zweimal die Staatsgrenze passieren. Die Durchfahrt durch polnisches Territorium erfolgte mit abgeschlossenen Türen und unter dem wachsamen Auge polnischer Beamten.

An der Wende der 20er zu den 30er Jahren wurden parallel zu der alten Chaussee auf dem deutschen Gebiet eine Umgehungsstraße und eine neue Straßenbahnstrecke gebaut. Damit wurde der Verkehr zwischen den deutschen Städten Zabrze/Hindenburg und Beuthen enorm vereinfacht. Die zu diesem Zeitpunkt gebaute Straße und die Straßenbahnverbindung werden bis heute genutzt, unter anderem von den Straßenbahnen der Linien 5 und 30 zwischen Biskupitz und Bobrek-Karf.

Beuthen

Nach der neuen Grenzziehung wurde Beuthen zu einer Art europäischem Kuriosum. Die Stadt verblieb zwar bei Deutschland, sie bildete allerdings einen Keil, der von drei Seiten vom polnischen Territorium umgeben war. Die Vorstädte im Norden, Osten und Süden lagen nun auf der anderen Seite der Grenze. Die Verbindung mit dem übrigen Deutschland war nur über eine Eisenbahnlinie (mit Abzweigung in Richtung Gleiwitz und Oppeln) und über zwei Landstraßen möglich.

Die „Beuthener Halbinsel“ stellte auch für die polnische Seite ein ernsthaftes verkehrstechnisches Problem dar, denn die Stadt trennte buchstäblich den südlichen Teil der polnischen Woiwodschaft Schlesien von ihren nördlichen Kreisen ab. Über Beuthen verlief die Haupteisenbahnlinie von Kattowitz nach Posen und nach Mittelwestpolen. In den ersten Jahren nach der Teilung der Region nutzten sowohl polnische Züge als auch polnische Straßenbahnen Transitkorridore über das Gebiet des deutschen Beuthen.

In der Stadt und in seinen heutigen Stadtteilen funktionierten 13 Grenzübergänge für Straßen- und Fußgängerverkehr.

Von 1922 bis 1931 war an der Gleiwitzer Straße in Beuthen das Konsulat der Republik Polen tätig. Wahrscheinlich war das die einzige polnische diplomatische Vertretung, von der aus das polnische Gebiet ohne weiteres zu Fuß zu erreichen war. Der Grenzübergang nach dem polnischen Hohenlinde (dem heutigen Stadtteil von Beuthen) war ca. 15 Marschminuten vom Konsulat entfernt.

Koschwitz / Koschmieder – ein grenzgeteiltes Dorf

Nachdem im Sommer 1922 Polen den ihm zugesprochenen, östlichen Teil Oberschlesiens übernommen hatte, befand sich das ganze Dorf Koschmieder (Kreis Lublinitz) in den Grenzen der wiederentstandenen polnischen Republik. Doch noch im Dezember desselben Jahres erschienen im Ort Vertreter der sogenannten Kleinen Grenzkommission, um im Raum Koschmieder eine Grenzkorrektur zu sondieren. Letzten Endes wurde die Grenzlinie zugunsten Deutschlands verschoben, so dass das Dorf entlang der Verbindungsstraße Pawonkau – Zawadzki geteilt wurde. Etwa zwei Drittel der Ortschaft (östlich der Straße) blieb in Polen; die Bauerhöfe westlich dieser Straße wurden indes nach elf Monaten, im Mai 1923, Teil Deutschlands. Im darauffolgenden Jahr erhielt der deutsche Teil von Koschmieder offiziell den Namen Koschwitz.

Von dem unerwarteten Wiederanschluss von West-Koschmieder (d. h. Koschwitz) an das Reich werden in beiden Ortschaften bis heute Anekdoten erzählt, die nicht immer historischen Fakten entsprechen. Laut einer von ihnen sollen die Kommissionsmitglieder zufällig eine Hochzeitsfeier besucht haben und spontan der Bitte eines Teiles der Dorfbewohner, die die Rückkehr zu Deutschland wünschten, nachgekommen sein. Auch erzählt man, dass die Übernahme des westlichen Ortsteiles durch die deutsche Verwaltung derart überraschend erfolgt wäre, dass ein Brautpaar, das sich am 26. Mai 1923 trauen ließ, sein Zuhause in West-Koschmieder noch als zu Polen zugehörig verließ, um in die Kirche des benachbarten Pawonkau zu fahren. Als die Frischvermählten jedoch nach der Zeremonie zurückkamen, habe sich ihr Teil der Ortschaft bereits in den Grenzen Deutschlands befunden.

Helenenhof und Kreuzberg Siedlungen, die infolge der neuen Grenzziehung entstanden

In den 20er und 30er Jahren des 20 Jhs. wurde die wachsende Übervölkerung von Beuthen, die in bedeutendem Ausmaß auf den Zuzug von Übersiedlern und Flüchtlingen aus dem polnisch gewordenen Teil Oberschlesiens zurückzuführen war, zu einem großen Problem für diese Stadt. Zwecks Verbesserung der Wohn- und Lebensqualität der Bevölkerung beschlossen Stadt- und Kreisverwaltung den Bau von so genannten Außensiedlungen. Zwei von ihnen sollten auf dem Gebiet des Gutes Stollarzowitz entstehen, das sich ursprünglich im Besitz des Geschlechts Henckel von Donnersmark aus Neudeck befand.

Die erste Siedlung – Helenenhof (heute: Zabrze-Helenka) – wurde zwischen 1929 und 1930 errichtet. Nach den ursprünglichen Plänen hätte ein gewaltiger Wohnkomplex entstehen sollen. Im Endeffekt bestand aber die Siedlung Helenenhof nur aus 27 zweistöckigen Wohnhäusern und drei Verwaltungs- und Dienstleistungsgebäuden mit insgesamt 300 Wohnungen.

Beinahe gleichzeitig zu Helenenhof begannen 1931 die Bauarbeiten an einer anderen Neusiedlung im gegenüberliegenden Teil des Gutes Stollarzowitz. In der so genannten Siedlung Kreuzberg (heute: Bytom-Osiedle Stolarzowice) dominierten im Gegensatz zu Helenenhof Ein- und Zweifamilienhäuser. Bis 1936, d.h. bis zum Abschluss des wichtigsten Teiles der Bauarbeiten, konnten fast 250 Familien ihre neuen Wohnungen in Kreuzberg beziehen. Damit stellen die bis heute existierenden alten Außensiedlungen eine dauerhafte Erinnerung an das Grenzkapitel der oberschlesischen Geschichte dar.

Stumme Zeugen – die Grenze heute

Weder Hitler-Deutschland noch das kommunistische Polen waren daran interessiert, die Erinnerung an die Grenze aufrechtzuerhalten, die infolge der Volksabstimmung entstand. Viele materielle Spuren wurden unwiederbringlich zerstört. Trotzdem findet man an Oberschlesiens Straßen immer noch stumme Zeugen der komplizierten Geschichte dieser Region: die architektonisch unverkennbaren deutschen und polnischen Zollhäuser sowie alte Grenzstellen und –befestigungen. Mancherorts stehen noch grasbewachsene, kaum noch sichtbare Grenzsteine mit den Buchstaben „D“ und „P“ und erinnern daran, dass das Übertreten der Grenze 17 Jahre lang eine tägliche Erfahrung von tausenden von Oberschlesiern war.

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