Wer ist der Großvater aus der Wehrmacht?

Während des Zweiten Weltkrieges leistete eine schwer zu schätzende Zahl von Männern aus den 1945 polnisch gewordenen Gebieten (deutscher Teil Oberschlesiens und Ostpreußen), die sich nach Kriegsende entschlossen, in Polen zu leben, ihren Dienst bei der deutschen Wehrmacht. Aus den „einverleibten Gebieten“ (den vom Dritten Reich annektierten Teilen der Zweiten Polnischen Republik) wurden wiederum ca. 650.000 Personen in die deutsche Wehrmacht einberufen, von denen etwa eine halbe Million als Polen betrachtet wird. Die meisten von ihnen stammten aus Pommerellen und Oberschlesien. Es lässt sich heute nicht genau sagen, wie viele von den Einberufenen im Kampf fielen, in Lazaretten oder (zumeist in sowjetischer) Gefangenschaft starben. Viele dieser ehemaligen Soldaten beschlossen, nach dem Krieg in Deutschland oder anderen westeuropäischen Ländern zu bleiben. In Polen durften wiederum jene bleiben, deren Verifizierungs- bzw. Rehabilitierungsverfahren positiv verliefen. Die meisten von ihnen erzählten während ihres späteren Lebens in der Volksrepublik Polen nur wenig über ihre Kriegserlebnisse, und wenn doch, dann eher im vertrauten Familien- oder nachbarschaftlichen Kreis. Paradoxerweise stellte diese Thematik, die quantitativ zu den größeren kollektiven Erfahrungen des Kriegsdienstes polnischer Bürger zählte, in der Nachkriegszeit ein Tabu dar, und dies sowohl an Schulen und Universitäten als auch in Historikerkreisen. Aus diesem Grund war die Kenntnis über den Kriegseinsatz bei der deutschen Armee kaum präsent und blieb auch nach der Wende von 1989, als die Erinnerung an die Wehrmachtssoldaten inzwischen kein Tabu mehr sein musste, ausschließlich ein Element der Familien- oder lokalen Tradition.

Als wir 2012-2014 die Materialien für die Ausstellung sammelten, nahmen wir im Rahmen der 49 Gespräche mit ehemaligen Wehrmachtssoldaten und ihren Verwandten insgesamt über 100 Stunden Material auf. Die kürzesten Gespräche hatten eine Dauer von einer knappen Stunde, die längsten wurden während mehrerer Treffen aufgenommen. Aus diesem Material haben wir jene Ausschnitte ausgewählt, die zeigen, wie vielfältig diese Erzählungen waren. Autobiografische Aufnahmen haben ihre Besonderheit, denn es ist der Protagon, der darüber entscheidet, wie lange und worüber er spricht. Auch spricht er über sich und seine Erfahrungen. Daher ist der subjektive, individuelle Blick unzertrennlich mit der Oral-History verbunden. Die Vergangenheit können wir dann aus der persönlichen Perspektive eines anderen Menschen sehen. Mündlich überlieferte Geschichte wird gleichzeitig retrospektiv, also rückblickend erzählt: Auf seine eigene Vergangenheit schaut man zugleich immer aus der jeweils aktuellen Perspektive, sie wird durch spätere Erfahrungen und den aktuellen Wissensstand gefiltert. Sich selbst in der Vergangenheit sieht man immer mit den Augen von heute.

Solch ein Abstand zu den eigenen Erfahrungen von vor vielen Jahren ist gleichzeitig ein Problem wie auch eine Chance. Ein Problem, weil mit der Zeit viele Erinnerungen im menschlichen Gedächtnis verblassen und man seine einstigen Haltungen anders bewertet. Eine Chance, weil der zeitliche Abstand in gewisser Weise einen Blick auf die eigene Biografie von außen ermöglicht, quasi aus der Vogelperspektive. Man erkennt darin das, was sich nach Jahren als wichtig, interessant und dauerhaft erwies. Wir bemühten uns, die Gespräche in der jeweiligen „Sprache des Herzens“ unserer Protagonistinnen und Protagonisten zu führen: Oberschlesisch, Polnisch oder Deutsch – jeweils der Sprache also, die ihnen am nächsten ist und war. Diese Mehrsprachigkeit wurde auch bei den ausgewählten Ausschnitten von Tonaufnahmen beibehalten, indem die Übersetzung jeweils ausschließlich in Form von Untertiteln auf dem Bildschirm eingeblendet wird.

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